Von Visionen zu Zielen

Die achte FAIRSPEC-Veranstaltung vom 7. Mai 2022 fand im Rahmen des auawirleben Theaterfestivals und in Zusammenarbeit mit m2act, dem Förder- und Netzwerkprojekt des Migros-Kulturprozent für die Darstellenden Künste, vor Ort statt.

Video Aufzeichnung

EIN PROTOKOLL-DRAMA 

Prolog 

Die Worte, Zeilen, Satzzeichen und Formexperimente, die du hier mit deinen Augen aufnehmen wirst, versuchen dir einen zusammenfassenden subjektiven Einblick in die FAIRSPEC-Veranstaltung «Von Visionen zu Zielen» vom 7. Mai 2022 zu geben. Für den gesamten Text brauchst du ungefähr 10 Minuten. Wenn du beim Lesen gerne Musik im Hintergrund laufen lässt, empfehle ich dir die FAIRSPEC Spotify-Playlist: Elephant in the room. 

Ok, los geht’s. Vorhang auf. 

1. Akt (Ausgangslage)

Samstagnachmittag. Wir befinden uns in Bern. Die Sonne strahlt.

Die Veranstaltung findet im Rahmen vom Theaterfestival auawirleben statt und in Zusammenarbeit mit m2act, dem Förder- und Netzwerkprojekt des Migros-Kulturprozent für die Darstellenden Künste. Alles ist wieder live. Inklusive sich nah sein, anfassen und so. Ein gewisses Flirren liegt in der Luft. Die AULA des Zentrums für Kulturprodukion PROGR, in der die Veranstaltung stattfindet, ist übersichtlich gefüllt. Die magische Anziehungskraft des köstlichen veganen m2act Buffets ist spürbar. Äpfel. Orangen. Berlinerin. mmhh Gipfeli. Brownis. So krasse Bröt…yummi…HALT STOP. Ich drifte ab. Stop the Foodporn-Vibes. Entschuldige liebe lesende Person. Es geht um Visionen. Um Ziele. Konkret: um die Zukunft der freien Szene der Darstellenden Künste in der Schweiz. 

2. Akt (Laufen lernen)

Eine Person tritt auf, schleicht durch den Saal und macht Fotos. 

Viele haben ihn gelesen, einige haben ihn unterzeichnet aber die wenigsten wenden ihn an: 

Den KODEX. Nach seiner überwältigenden Geburt soll der FAIRSPEC KODEX endlich Laufen lernen. Aus Visionen sollen Zielen werden. Auf Empfehlungen sollen Handlungen folgen. Die Arbeitsbedingungen innerhalb der Darstellenden Künste müssen fairer werden. Punkt. 

Im Saal ist ein mysteriöses Gemurmel hörbar. Die Veranstaltung wird simultan via Funkmikrofon und entsprechenden Kopfhörer auf Englisch übersetzt

Today it starts to become concrete. Visions are to become goals. Recommendations are to be turned into actions. Working conditions within the performing arts must become much fairer …

3. Akt (Wirkungsorientierung)

Wenn wir eine Verhaltensänderung hervorrufen wollen, macht es Sinn wirkungsorientiert vorzugehen. Wenn wir das Konzept der «Wirkungsorientierung» auf ein Projekt anwenden, unterteilen wir das Projekt im Grunde genommen in vier Schritte: 1) INPUT 🡪 2) OUTPUT 🡪 3) OUTCOME 🡪 4) IMPACT. 

Veranschaulichen wir diese vier Schritte anhand eines Best-Practice-Beispiel. 

z.B. anhand der «Richtgagen von t.punkt»:

1) INPUT 

Es braucht fairere Löhne innerhalb der freien Szene der darstellenden Künste der Schweiz. Es wird eine Richtlinie für Gagen erarbeitet/veröffentlicht.

2) OUTPUT 

Die Richtlinie wird akzeptiert und findet Unterstützer*innen.

3) OUTCOME

Die Richtlinie führt zu einer Veränderung im Bewusstsein der Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen + Die Richtlinie wird im Arbeitsalltag angewendet.

4) IMPACT 

Die Richtgagen werden zum neuen Standard

4. Akt (Elephant in the room)

Auf einer Leinwand im Saal erscheint eine Videobotschaft. 

In dem Video ist Thomas Schmidt zu sehen. Es geht um den Weg von Visionen zu Zielen. Wie schaffen wir es zu einer gerechten, respektvollen, diskriminierungs- und machtarmen freien Szene in der Schweiz. Thomas Schmidt ist Professor und Leiter des Master-Studiengangs Theater- und Orchestermanagement an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt und Autor des Buches „Macht und Struktur im Theater. Asymmetrien der Macht“ in dem eine Studie zu Macht im Theater ausgewertet wird an der fast 2000 Proband*innen teilgenommen haben. Inhaltlich geht es in dem Video um die unausweichlich zusammenhängenden Begrifflichkeiten Vision. Strategie. Massnahmen. Er beschreibt als erstes verschiedene Auslegungsarten des Begriffs «Vision» z.B. als eine bildhafte Erscheinung eines Zukunftsortes, als einen traumhaften Ort in der Zukunft ODER als ein Leitmotiv/Zukunftsmodell/grosses Gesamtziel das aus der Verwirklichung einer oder mehrere Strategien und Massnahmenbündeln besteht.

(Anm. der Redaktion: der “Elephant in the room” war Teil des Live-Events, es wird an dieser Stelle auf Wunsch von FAIRSPEC nicht deskriptiv darauf eingegangen)

Zwischenspiel (12 Leitmotive) 

Liebe lesende Person, wähle eines der folgenden zwölf FAIRSPEC LEITMOTIVE aus dem Kodex aus, das dich anspricht, dich im künstlerischen Arbeitsalltag betrifft oder immer wieder auftaucht:   

01 Selbstreflexion - 02 Empathie - 03 Verantwortung – 04 Transparenz - 05 Augenhöhe - 06 Konstruktivität  07 Kommunikationskultur - 08 Diversität - 09 Verbindlichkeit - 10 Belastbarkeit - 11 Nachhaltigkeit - 12 Wertschätzung 

Wenn du bei den Begriffen nicht andocken kannst, hier geht’s zum Kodex.

Next step: sammle ein oder mehrere ganz konkrete Beispiele/Situationen dazu. 

Next step: Schnapp dir eine oder mehrere Personen in deiner Nähe oder benutz den Telefon-Joker und tausch dich dazu aus. Oder: überspringe den Schritt und leite von deinem Beispiel eine Aktion oder Aktivität zur Veränderung eines problematischen Handlungsmusters ab: 

Welche Strategien, Massnahmen oder Handlungsempfehlungen kommen dir in den Sinn …? Wenn du willst teile deine Ergebnisse oder Fragen hierzu unten in den Kommentaren! 

Im folgenden Akt findest du einige Themen, die am 07.05. gesammelt wurden.

4. Akt (Vom Besonderen zum Allgemeinen)

Tischgespräche und Kodex-Geflüster in kleinen Gruppen. Es werden Fragmente hörbar gemacht.

TISCH 4 

Ah! Jetzt haben wir die Aufgabe verstanden. OK also was wäre dein konkretes Beispiel?

TISCH 2

Eine Angestellte hat ein Baby bekommen und ihr Pensum reduziert. Sie fällt seitdem zusätzlich sehr oft aus. Eine Kollegin aus dem Team übernimmt immer mehr Aufgaben oft auch spontan und kurzfristig. Auf Dauer ist das keine Lösung für die Kollegin. Was tun? Was sagt der Kodex?

TISCH 1

Ich leite ein Theater. Hierarchien sind ein Problem …auch das mit der Diskussionskultur ist nicht leicht …also Ich habe die ZHdK abgeschlossen. Organisations- und Netzwerkarbeit erfährt eine andere Art der Wertschätzung als die Künstlerische …also ich arbeite u.a. als Techniker … nicht genug Wertschätzung für Alles was drumherum geleistet wird. Sich beteiligen ist schwer es wird Vieles einfach bestimmt. Für Künstlerinnen gibt es ausserdem zu wenig Schutz! Schutz während der künstlerischen Erarbeitung sowie finanziell …siehe Corona.

TISCH 3 

Là je trouve qu’ on n’a pas trouvé le moyen juste … ça ne marche pas … ce n’est pas transparent.

TISCH 2

Wir haben einige regelmässige krankheitsbedingt Ausfälle. Auch Personal das im künstlerischen Bereich tätig ist. Oft betrifft es z.B. eine Produktion in den Endproben …wie darauf reagieren, wenn es regelmässig vorkommt? Eine geringere Belastbarkeit Einzelner wirkt sich auch auf die Belastbarkeit der Andere aus …wie damit umgehen …was sagt der Kodex, gibt er Antworten darauf? 

***

Leitmotiv Diversität

Wie positioniere ich mich zu Diversitätsfragen? Wie kommuniziere ich? Wie sensibel verwende ich Sprache? Wie schreibe ich eine Stelle aus? Wie besetze ich? Wie caste ich und aus welcher Motivation heraus? Wen stelle ich warum an? In was für einer Bubble bewege ich mich eigentlich? Grundsätzlich ist hinsichtlich dieses Themas eine grosse Unsicherheit im Raum spürbar, die an- und ausgesprochen wird. 

Gesammelte Handlungsempfehlungen: Annehmen, Unsicherheit aushalten und als Qualität begreifen. Gestaltungen von Ausschreibungen überarbeiten. Zugänglichkeit schaffen u.a. auch für Schule/Ausbildung etc. 

Leitmotiv Kommunikationskultur

Unklare Verhältnisse im Prozess. Wer macht was? Wer arbeitet wieviel? Wer ist Ansprechperson? Angst, fehlende Ressourcen/Kapazitäten zuzugeben. Mangelnde Diskussionskultur.

Gesammelte Handlungsempfehlung: Aufgaben und Zuständigkeiten zu Beginn des Projektes klären + zeitnah immer wieder überprüfen, offen reden, laut denken. 

Leitmotiv Transparenz

Nicht genügend Transparenz betreffend Kriterien, Vergabekriterien, Fördersummen, etc.

Gesammelte Handlungsempfehlungen: Auch dort transparent zu sein, wo wir nicht transparent sein können oder dürfen, z.B. bei Themen wie Finanzierung von Projekten.

Leitmotiv Belastbarkeit 

Mangelnde Wissenskultur, falsche Ressourcenplanung, toxische Leistungskultur, Langzeit Krankheitsfälle. Wie muss ein Betrieb, eine Institution, organisierte sein, um auf unterschiedliche Bedürfnisse und Belastbarkeiten Rücksicht zu nehmen? 

Gesammelte Handlungsempfehlungen: Aufgaben und Wissen teilen, Von Anfang an Kapazitäten realistischer definieren, Zeitpuffer einplanen (wieviel ist 100%?), die Dinge offen ansprechen evtl. mithilfe von Tools (Kommunikation), loslassen und abgeben von Verantwortlichkeiten, Jobsharing (Mehrkosten?!), «New Work» Modell (nur 4 Tage die Woche arbeiten), transparenter kommunizieren, miteinander nicht gegeneinander. 

Leitmotiv Wertschätzung 

Zeitliche Ressourcen, fehlender Einblick in Lebens- und Arbeitsrealität der anderen. 

Gesammelte Handlungsempfehlungen: u.a. Merci-Wecker

5. Akt (Grobe Auswahl Lösungsansätze)

  • Eine dauerhafte Praxis. Regelmässiger Räume schaffen für solche Diskussionen wie sie hier bei der Veranstaltung stattgefunden haben. Diese Art von Austausch beeinflussen nachhaltig Verhaltensmuster. 

  • Realität der Wissensvermittlung überprüfen. Wie wird Fachwissen vermittelt? z.B. an Produktionsleitende? Zugang zu Fachwissen, Ausbildungsangebote für Produktionsleitungen verbessern.

  • Workshops die konkrete Tools anbieten

  • Best Practice Beispiele und Handlungsempfehlungen sammeln und zugänglich machen (z.B. hinten an den Kodex anhängen oder eine Toolbox entwerfen oder online eine Wissensplattform aufbauen)

  • Kodex Vermittlung als Dienstleistung/Service anbieten

  • FAIRSPEC-Coachings anbieten

  • Arbeitskreise bilden und Abgesandte bestimmen 

  • Wie kann der Kodex seinen Herzschlag behalten? Vor dem Start jedes Projektes den Kodex gemeinsam durchgehen so dass alle denselben Herzschlag haben.

KOMPLIZ*INNENSCHAFT

Vertreter*innen der freien Musik-Szene und von «festen» Häusern fühlen sich inspiriert und wollen eine Initiative wie FAIRSPEC auch! Wenn das mal kein Kompliment ist! Oder gar eine Vision in Richtung «FAIRSPEC- Expanded»? Hach, die freie Szene war halt immer schon Visionärin und Vorreiterin. Yeah!

Fiktives polyphones Schlussplädoyer

Auftritt Solist*innen und Chor I-VI

CHOR I: 

Höher! Höher! 

Weiter! Weiter!

Schneller! Schneller! 

Besser! Besser! 

SOLIST:

HALT STOP.

CHOR II: 

Fairer! Diverser! 

Zugänglicher! 

Nachhaltiger! 

SOLISTIN: 

Ich habe keine Zeit. 

CHOR III:

Kommunikativer! Demokratischer! 

Co-Kreativer! Cooo-Kreativer! CoCoCo-Kreativer!

SOLIST*: 

HALT STOP. Wir nehmen uns keine Zeit. 

CHOR VI: 

Coaching’s?

Toolboxes?

Plattformen?

Künstler-LinkedIn?

Apps?

Noch effizienter. 

Effizienter.

noch effektiver. 

Effektiver.

noch leistungsfähiger. 

Leistung! Leistung!

SOLISTIN*:

Wir haben nicht genug bezahlte Zeit. 

Wir sind überlastet. Wir sind ausgebrannt.

CHOR I-VI

Neeeeeooooooliiiiberaaaaale Optimieeeeeruuungsfalleeeeeee. Ha! Haaaaaaaaaa!

Epilog

Müde sein ist okay. Nicht funktionieren ist okay. Unsicher sein ist okay. 

Für etwas «Brennen» geht auch ohne sich vor lauter Ambitionen physisch und emotional abzufackeln. 

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Rassismus in den Kulturinstitutionen - Wenn Strukturen oder Machtfragen verändert werden müssen, kommen plötzlich die Gegenargumente.

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Das Ziel ist gesteckt