Das Ziel ist gesteckt

Die siebte FAIRSPEC-Veranstaltung vom 2. April 2022 fand online in Kooperation mit dem Schlachthaus Theater Bern statt.

Video Aufzeichnung

Für dieses Treffen haben sechs Institutionen und Verbände den FAIRSPEC-Kodex mit Blick auf seine praktische Umsetzbarkeit überprüft und als Inspiration und Diskussionsgrundlage genutzt. Bei den folgenden Gesprächen ging es um das Teilen erster Erkenntnisse und Fragen in Bezug auf den Kodex-Wertekatalog, um in einem weiteren Schritt verbindliche Handlungsmaßnahmen für den Arbeitsalltag in Theaterinstitutionen zu formulieren.

In Gesprächen mit den sechs Institutionen und Verbänden ist die Leiterin der FAIRSPEC-Geschäftsstelle, Joëlle Jobin, den im Kodex festgehaltenen Themen auf den Grund gegangen. Dabei ging es besonders um Fragen der Fair Practice, der internen und externen Kollaboration sowie um die Hierarchien im Betrieb. 

Aus den Gesprächen hat Joëlle Jobin folgende Take-Aways formuliert: 

Take-Away #1

Es gibt ein natürliches Macht- und Abhängigkeitsverhältnis zwischen Künstler*innen und Institutionen. Wer Folgeaufträge will, hat sich entsprechend zu verhalten.

Take-Away #2

Hierarchien sind vorhanden, aber werden vertuscht.

Take-Away #3

Es gibt verschiedene Ansprüche von der Technik, der Administration und Künstler*innen. Die unterschiedlichen Gewerksansprüche werden nicht immer kooperativ verhandelt.

Take-Away #4

Individuelle Probleme sind oft struktureller Natur, deswegen ist der Blick fürs Ganze wichtig.

Take-Away #5

Es mangelt an Diversität.

Take-Away #6

Bei der Zusammensetzung von Vorständen ist besonders die intergenerationelle Diversität ist nicht gegeben, da Vorstände auf ehrenamtlicher Basis funktionieren. Künstler*innen haben gerade zu Beginn ihrer Karrieren jedoch keine Kapazität und finanziellen Freiheiten, um der Vorstandstätigkeit nachzugehen.

Take-Away #7

Ein stärkerer Fokus sollte auf die Organisationsentwicklung und die realistische Planung bezüglich der Pensen gelegt werden.

Take-Away #8

Der Vorstand ist hierarchisch höhergestellt, als die operative Leitung. Das führt zu inhaltlichen und terminlichen Konflikten.

Take-Away #9

Individuelle Diskriminierungserfahrungen haben oft strukturelle Gründe. Intransparente Kommunikation macht es schwierig diese Gründe zu eruieren.

Take-Away #10

Es gibt ein Machtgefälle zwischen etablierten und weniger etablierten Institutionen.

Das Fazit:

A) 

Es braucht eine kulturspezifische Anlaufstelle für Institutionen. 

Reso und t. sind etablierte und wichtige Pfeiler. Sie reichen jedoch nicht aus.

B)

Die Verschriftlichung der Forderungen, Wünsche und Ziele in einem Kodex helfen die Probleme offiziell zu benennen und dadurch konkrete Maßnahmen bindender zu formulieren. 

C)

Beispiele für Best Practice-Fälle sollten sichtbarer gemacht werden, genauso der Einsatz für die Förderung der Diversität an den Häusern. Bei all dem stellt sich die Frage nach den Ressourcen, die aufgewendet werden sollen und aufgewendet werden können, um die im Kodex verankerten Werte bindend in den Betriebsalltag zu übertragen.

***

Um die Implementierung des FAIRSPEC-Kodex’ ging es auch im darauffolgenden Gespräch zwischen Diana Rojas-Feile und Michelle Akanji. Diana Rojas-Feile ist Teil des FAIRSPEC-Vorstand sowie Vertreterin von t. und im Vorstand der Gessnerallee. Michelle Akanji ist verantwortlich für die Gesamtkoordination der Gessnerallee. Seit 2020 erarbeitet der Vorstand der Gessnerallee ein Governance-Framework für die Institution und nahm der Fairspec Kodex als Inspiration. Dieser laufende Prozess ist derzeit noch nicht abgeschlossen. Michelle Akanji und Juliane Hahn, die gemeinsam für die Gesamtkoordination der Gessnerallee verantwortlich sind, haben in einem unabhängigen Prozess eine eigene Charta entwickelt.

DR: Wie ist eure Charta entstanden?

MA: Im August 2020 sind wir als neues Team gestartet. Nach einem Monat fand ein großer Teamworkshop statt, bei dem Festangestellte und Freelancer zusammengekommen sind, um mit einem Coach zu Fragen der diversitätsorientierten Organisationsentwicklung zu diskutieren und die Öffnung unserer Institution nach innen und nach aussen zu analysieren.  Das Ziel war eine verbindliche Werte-Charta, um ein Mission Statement zu formulieren.

DR: Welche Werte sind das?

MA: Zu unseren Werten gehören: Vielstimmigkeit, Vielfalt, Mitsprache, machtkritische Haltung, Kohärenz, Experiment, Kollaboration, Langfristigkeit, Partnerschaftlichkeit und Transparenz.

Die Begriffe sollen die Grundvision der Gessnerallee stützen: Ein inklusives Theater, das kulturelle Teilhabe fördert und machtkritisch ist: Ein Theater, das Kunst und Diskurs im Betrieb integriert.

DR: Was waren die wichtigsten Erkenntnisse im Prozess?

Nicht nur die Findung der Begriffe war eine Herausforderung, sondern auch ihre Implementierung in den Arbeitsalltag. Was heißt Transparenz im Betriebsalltag? Was geschieht, wenn Akteur*innen davon ausgehen, dass es ja ohnehin keine absolute Transparenz geben kann in einem Theaterbetrieb? Transparenz über Kündigungen zum Beispiel. Es geht also darum, die Werte im Alltag kritisch zu reflektieren und zu verstehen, wo die Werte auch tatsächlich eingehalten werden können und wo nicht. 

DR: Wie siehst du den im FAIRSPEC-Kodex formulierten Absatz zum Thema «Belastbarkeit» im Bezug auf eure Arbeit an der Gessnerallee?

MA: Das Theatersystem ist auf große Belastbarkeit angelegt. Viele Aufgaben können nur mit großem Aufwand und extremer Belastung gemeistert werden. Das ist eine große strukturelle Herausforderung. Eine Maßnahme, die getroffen wurde, um die anhaltende Belastung zu verringern, ist ein zyklisches Programm: Wir haben fünf Zyklen pro Spielzeit. Dazwischen ist Pause. Also keine Veranstaltungen, kein Abenddienst. Die Schulferien mitgedacht. Das ist grundsätzlich wichtig, auch für Angestellte mit Familien. Auf der anderen Seite steht auch unsere Ambition nicht weniger Programm machen zu wollen. Das heißt, dass es zu einer Verdichtung des Programms und somit auch zu mehr Druck kommen kann. Als Gesamtkoordinatorin mit Personalverantwortung muss ich mir dementsprechend auch auf personeller Ebene Ressourcenfragen stellen. Es ist ein ständiges Abwägen.

DR: Was ist nötig, um einen optimale Ressourcenverteilung zu gewährleisten?

Jede künstlerische Kooperation benötigt unterschiedliche Ressourcen. Gleichberechtigung bedeutet in dem Fall: Nicht davon auszugehen, dass alle Beteiligten die gleichen Voraussetzungen mitbringen. Dass die Bedürfnisse partnerschaftlich erkundet werden müssen im Gespräch. Das ist sehr wichtig, gerade in der Zusammenarbeit mit Technik und den Künstler*innen. Wir haben zum Beispiel die Arbeitsgruppe «Welcome» geschaffen. Zur Gruppe gehören Menschen aus dem festangestellten Team, die als «Buddy» Künstler*innen bei der Produktion als Ansprechpartner*in zur Seite stehen, um Bedürfnisse und Wünsche, die nicht nur die Produktion selbst betreffen, zu klären.

DR: Danke Michelle für das Gespräch.

***

Drei Kurzinputs haben den Teilnehmenden der FAIRSPEC #7 einen  Einblick in die praxisnahen und tagesaktuellen Herausforderungen von Tanzplan Ost, dem Blickfelder Festival und dem Tanzhaus gegeben. 

TanzPlan Ost / Linda Zobrist:

TanzPlan Ost ist ein Förderprojekt für zeitgenössischen Tanz, wobei die ig tanz ost als Trägerverein agiert. Ein großes Thema der letzten Jahre war das Gefälle zwischen Vorstand und Angestellten. Besonders die unbegründete Entlassung einer Person durch den Vorstand hat zu Unmut geführt. LZ und das Team waren bis zu dem Zeitpunkt davon ausgegangen in einer flachen Hierarchie zu arbeiten. Das war jedoch nicht der Fall. Die Entscheidungsmacht lag komplett beim Vorstand, der zudem auch nicht transparent kommuniziert hat. Als Konsequenz hat TanzPlan Ost ihr Organigramm geschärft und überarbeitet sowie Verträge und Statuten angepasst. Zudem wurde ein Pflichtenheft für den Vorstand eingeführt, damit der Vorstand seiner Verantwortung und seinen Kompetenzen konsequenter gewahr wird. 

Blickfelder / Marcel Hörler:

Als Co-Leiter des Blickfelder-Festivals war Marcel Hörler bei der Neubesetzung des Vorstandes vor eine Herausforderung gestellt: Alle Mitglieder des Vorstands sind weiß und able bodied. Auch im Vorstand divers zu sein, ist ein Anliegen des Festivals, weshalb in den Ausschreibungen gezielt nach Menschen gesucht wurde, die aus unterrepräsentierten Gruppen kamen. MH denkt: Die Begriffe für die strukturellen Unzulänglichkeiten zu finden ist wichtig, damit die Strukturen verändert werden können. 

Tanzhaus / Guillaume Guilherme: 

Im Tanzhaus stehen die Künstler*innen im Zentrum des Betriebs. Inklusion, Diversität und Nachhaltigkeit, auch die ökologische, sind dabei drei Pfeiler der Institution. Für das Tanzhaus sind Empathie und Kommunikation auf Augenhöhe wichtige Werte, um mit dem Ansatz der Radical Care Safe Spaces für die Kunstschaffenden zu garantieren. Dazu gehören faire Gagen genauso wie Fair Practice, wo sich das Tanzhaus an den von Reso und t. vereinbarten Richtlinien orientiert. 

*

Nach diesen drei informativen Inputs, ging es ans Eingemachte. Die Teilnehmer*innen waren aufgefordert, in Breakout-Rooms je einen Wert aus den  drei im FAIRSPEC-Kodex definierten Kategorien kritisch zu diskutieren: Persönliche Leitmotive, Kommunikation und Zusammenarbeit. Besonders sollte der Frage nachgegangen werden, wie aus dem Wertekatalog des Kodex’ verbindliche Massnahmen abgeleitet werden können, die im Alltag der Theaterbetriebe nachhaltig wirken. 

Der Protokollant verbrachte einige Minuten in jedem Breakout-Room. Besonders auffallend war bei den Diskussionen, dass die Diskutierenden sich einig waren, dass die im Kodex definierten Werte wie Diversität, Nachhaltigkeit und Empathie nicht als solitäre Kategorien verstanden werden können. Um den Kodex auf seine Wirkungsmacht zu überprüfen und seine Praktikabilität zu festigen, sollten die Werte vielmehr verschränkt gedacht werden. Dieser Grundgedanke führte dazu, dass die Diskussionsgruppen die im Kodex festgehaltenen Werte oft nicht isoliert, sondern im Zusammenhang diskutierten. 

Am Ende der siebten FAIRSPEC-Veranstaltung wurden in der großen Runde die Gedanken und Fragen aus den Breakout-Rooms mit der Gruppe geteilt. 

Zu folgenden Schlüssen sind die Diskutierenden dabei gekommen:

Gruppe 1 – Persönliche Leitmotive

UH: Empathie, Verantwortung und Selbstreflexion müssen als Werte zusammengedacht werden. Eine wichtige Frage bei der persönlichen Motivation ist, wie man alle Beteiligten an Board holt und begeistert, ohne Top-down- Transformationen zu forcieren. Die größten Herausforderungen sind dabei nach wie vor mangelnde Ressourcen und eine ausführliche und transparente Kommunikation. 

Ziel: Auch in Zukunft eine wachsende und lernende Organisation zu sein. 

Gruppe 2 – Kommunikation

DL: Der Fokus der Diskussion lag auf dem Wert Transparenz. Das Hauptthema der Diskussionen war die Zusammenarbeit zwischen Vorstand und Team. Dabei wurden besonders die oft mangelnde Transparenz und der stockende Kommunikationsfluss zwischen dem operativen Team und dem strategisch denkenden Vorstand erwähnt. 

Ziele: Eine neue Struktur etablieren, damit das operative Team nicht über die Geschäftsleitung gehen muss, um dem Vorstand Vorschläge zu unterbreiten. Zudem sollen Jours Fixes mit Team und dem Vorstand eingeführt werden, um die Kommunikationskultur zu verbessern. Dabei soll die Verantwortungsdiffusion eine wichtige Rolle spielen sowie weiterhin an einer informellen Kommunikationskultur festgehalten werden, um das Vertrauen zwischen den verschiedenen Parteien zu fördern. 

Gruppe 3 – Zusammenarbeit

S. Die Gruppe hat Belastbarkeit und Diversität als zusammenhängende Themen gewählt. Als kleines Team sind Einsätze intensiv und fordernd. 

Unsere Ziele: Die nötige Sensibilität an den Tag legen, wenn junge Menschen eingestellt und bei den ersten Schritten im Theaterbetrieb begleitet werden, um das Ausscheiden aufgrund von psychologischen Erkrankungen vorzubeugen.

Gruppe 4 – Zusammenarbeit

GG: Das Thema Belastbarkeit stand im Fokus der Diskussionen. Besonders die Frage, wie wir bei Engpässen reagieren, hat uns umgetrieben. Eine mögliche Lösung wäre, die Sensibilität im Team zu stärken, um die Verantwortungen klarer zu definieren. Dabei geht es nicht um das WAS, sondern um das WIE – darum, wie die Arbeit wirkt und nicht so sehr darum, was per se gearbeitet wird. 

Ziel:

Die Betriebs-Hierarchie mit einer transparenten Fehlerkultur beleben und mit dem Modell einer lernenden Organisation ständig hinterfragen. 

***

Am Ende der siebten FAIRSPEC-Veranstaltung war den Teilnehmer*innen klar: Nur wenn die Wichtigkeit und Wirksamkeit des FAIRSPEC-Kodex’ in den jeweiligen Institutionen kommuniziert wird, können effektive und bindende Maßnahmen für den Alltag in den Theaterbetrieben formuliert werden. 

Das Ziel ist gesteckt. Für die Verbände und Institutionen heißt es jetzt: Handeln.

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